Eine Neuausrichtung

Von Partialreformen zu einer systemischen Betrachtung von Gesundheit: Ein anderer Blick auf die „Revolution“ im Gesundheitswesen

Wie revolutionär ist eigentlich die zuletzt (2023) angekündigte „Revolution“ im Gesundheitswesen? Immerhin steht sie in einer langen Reihe von mehr oder weniger eingreifenden Reformen. Ist die medizinische Versorgung vielleicht eine „Dauerbaustelle“?

Die Besonderheiten der Finanzierung und Leistungserbringung im Gesundheitswesen führen zu einem Dilemma: der berechtigte Wunsch nach optimaler Versorgung für alle Bürger unabhängig vom Einkommen kollidiert mit den ebenso berechtigten Wünschen nach einer effizienten Versorgung und Freiheit in individuellen Gesundheitsentscheidungen.

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Im deutschen Gesundheitswesen ist der Preis als Rationierungsinstrument außer Kraft gesetzt: jeder soll das bekommen, was er braucht – und nicht das, was er sich leisten kann. Dadurch müssen Angebot und Nachfrage (die sonst über den Preis rationiert werden) politisch gesteuert werden. Das passiert im Wesentlichen durch politische Gremien: vom Gesetzgeber, Bundes- und Landesministerien über den Gemeinsamen Bundesausschuss bis hin zu den Instituten für Entgeltsysteme im Krankenhaus und des Bewertungsausschusses, um nur einige wichtige Institutionen zu benennen.

Der Bedarf für Planung ist evident. Statt jedoch den tatsächlichen Bedarf krankheitsbezogen zu ermitteln und dann die Kapazitäten anzupassen, wird die Planung für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenhäuser faktisch einfach fortgeschrieben. Ursachen sind, dass eine differenzierte Planung medizinisch-inhaltlich nicht immer trivial ist (bei komplexen Krankheiten z. B.) und auf Länderebene ein hohes Maß an Kompetenz und Standvermögen benötigt, um rational vorzugehen und dann die Ergebnisse auch umzusetzen.

Da außerdem Medizin und Pflege inzwischen über 12% des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaften (oder verbrauchen, je nach Sichtweise), gibt es in keiner Branche so viele Lobbyisten wie im Gesundheitswesen. Das heißt: bei jeder Äußerung muss man sich fragen, wer gerade in wessen Interesse schreibt. Es gibt derzeit kaum interessenunabhängige Plattformen.

Quelle: Statista (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76458/umfrage/deutschland-entwicklung-der-gesundheitsausgaben-seit-1997/)

Eine grundlegende Reform ist nicht in Sicht, aber dringend nötig

Reformen bleiben entsprechend Stückwerk. Der US-amerikanische Gesundheitsökonom Uwe Reinhardt hat das unerreichbare Ideal einer umfassenden und "endgültigen" Reform sehr schön auf den Punkt gebracht, als er sagte: "Es wird immer eine Gesundheitsreform geben und die letzte ist gescheitert".

Reformen können letztlich zwei Wege nehmen: (1) den Status Quo optimieren und (2) grundlegend neue Wege der Betreuung von Populationen und kranken Menschen entwickeln. Reformen in Deutschland gehen nahezu ausschließlich den ersten Weg. Die Abgrenzung ambulanter versus stationärer Versorgung, Qualitätsmanagement, Digitalisierung, Medikamentenversorgung, usw. sind letztlich Versuche das existierende System zu verbessern und effizienter zu gestalten, aber auch Partialinteressen zu bedienen und institutionelle Strukturen zu erhalten.

Eine grundlegende Reform ist nicht in Sicht. Die Reaktion auf das Corona-Virus und die aktuellen Experten-Gremien seien hier beispielhaft genannt.

Die Diskussion um den richtigen Umgang mit COVID-19 wurde wesentlich von virologischer Expertise und der Frage einer möglichen „Überlastung“ des Gesundheitssystems beeinflusst. Eine umfassende Bewertung und Ableitung von Maßnahmen hätte jedoch einen multi- und interdisziplinären Diskurs erfordert; hier wären Kliniker, Hausärzte, Epidemiologen, Psychologen, Ökonomen, Stadtsoziologen, Juristen, Verkehrswissenschaftler und andere gefragt gewesen.

Die Schieflage vieler Experten-Gremien sowohl bei der Krankenhaus-Reform wie auch im Sachverständigenrat ist offensichtlich. Klinikchefs, Verwaltungsleiter und Ökonomen dominieren. Es fehlen die Stimmen der ambulanten Versorgung, der Pflege, der Industrie, der Patientenvereinigungen, der anderen Heilberufler, der Apotheker, um nur einige zu nennen.

Es fehlt eine grundlegende Diskussion, die frei ist von Partialinteressen: Zwar gibt es eine Vielzahl von klugen Ansätzen, um Versorgung inklusiv und regional zu betrachten, die Vergütung von angemessener präventiver Medizin und gesundheitsfördernde Maßnahmen abhängig zu machen, Weiterbildung und Aufklärung in den Vordergrund zu bringen, Vorhaltekosten stärker zu berücksichtigen – um nur einige Ideen zu benennen. Diese Ansätze sind aber in der „offiziellen“ Diskussion praktisch nicht vorhanden.

Ein neues Ziel

Die DGFM hat sich deshalb neu ausgerichtet, um die Debatte über gesundheitliche Versorgung in Deutschland zu beleben. Neben einer generellen kritischen Sicht auf das korporatistisch-institutionelle-lobbyistische Geflecht im Gesundheitswesen möchte wir auch weitere Themen in die öffentliche Diskussion einbringen. Themen, die wir als wichtig erachten, die aber oftmals nur geringe Wahrnehmung in der Öffentlichkeit haben, insbesondere:

  • Die stärkere Betonung der Patientensicht. Deutlich über klinische Methoden der patient-reported-outcomes hinausgehend, sollen auch die Kommunikation im Gesundheitswesen, Risikowahrnehmung und auch die Bedeutung von Mythen im Gesundheitswesen und „Fake News“ mit eingehen bzw. dekonstruiert werden.
  • Eine systematische Erfassung und Aufarbeitung von Fehlern in der Medizin und ihrer Gründe jenseits nur anekdotischer Evidenz.
  • Systematische und quantitative Erfassung von Unter- und Überversorgung. Zwar wird bisher regelmäßig über unnötige Doppeluntersuchungen, Fehl- Unter- und Überversorgung und Sektorengrenzen geklagt – aber niemand weiß, welche Rolle sie tatsächlich spielen. – Die Medizin fokussiert sich sehr auf die je einzelne Arzt-Patienten-Beziehung; über Patienten, die das System gar nicht erst erreichen (z. B. über die Hälfte aller psychisch kranken Kinder!) weiß sie fast nichts.
  • Digitalisierung und künstliche Intelligenz: Was passiert eigentlich bei der Digitalisierung der Medizin (auch: mit ihrer Organisation und der Machtverhältnisse der Beteiligten) und wer sorgt dafür, dass sie den Patienten nützt?
  • Systematische Identifikation kosten-effektiver Präventionsansätze, insbesondere für vulnerable / benachteiligte Gruppen. Beispiel: die BZgA plakatiert intensiv, aber praktisch nur zu STDs, Alkohol und Impfen. Es braucht nicht viel Fantasie, um andere, hoch relevante und effiziente Präventionsgebiete zu identifizieren.
  • Personal im Gesundheitswesen: Qualifikation, Zufriedenheit, Kooperation und Kommunikation, nicht zuletzt der Personalmangel sind drängende Probleme.
  • Aspekte der industriellen Gesundheitswirtschaft und auch generell die Bewegung, lokale Gesundheitsregionen hinzuzufügen. Dies umfasst auch grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung (so beispielsweise die im Aachener Vertrag, Art. 13 Abs. 2. in seiner „Experimentierklausel“ genannte Möglichkeit, dass Deutschland und Frankreich in einem Grenzraum eigene Gesetze einrichten dürfen).
  • Wie funktioniert eigentlich eine „Gesundheitsreform“? Wer „macht“ neue Gesetze und wie funktioniert das? Was bringt ein nüchterner Blick hinter die Kulissen im Sinne eines „Berichtes aus dem Maschinenraum“?

Schließlich und vor allem münden diese Themen in die Frage: Kann man das Gesundheitswesen besser hinkriegen, z. B. durch intelligentere Steuerung, mehr Transparenz, weniger Korruption, bessere Kapazitätsplanung, mehr Prävention usf.?